Von Olivenbäumen und Grillenzirpen

Um Punkt acht Uhr werde ich aus dem Flieger ausgespuckt und stehe nach erfolgreich absolviertem Bustransfer mit klitzekleinen Augen im Zentrum der Hektik – dem Hauptbahnhof in Rom. Die Ragizzis rasen an mir vorbei, während ihr Aftershave nicht Schritt halten kann und sich letztendlich wie eine Rauchspur langsam hinter ihnen in Luft auflöst. Die Signoras telefonieren laut neben mir, während sie ihren mit Puderzucker bedeckten Croissant essen. Eineinhalb Stunden blicke ich aus dem Zugfenster und sehe die Felder, Hügel und den blauen Himmel an mir vorbeirasen, eineinhalb Stunden dauert es, bis der Trubel und die stehende Hitze Roms komplett hinter mir liegen. Mit jedem weiteren Ortschild der kleinen Bahnhöfe komme ich meinem Ziel näher. Die Endstation „Firenze Santa Maria Novella“ hallt mehrmals durch die viel zu kühlen Zugabteile und alleine der Name des Bahnhofs in Florenz hört sich ein bisschen an wie Poesie. Ich aber verlasse den Zug vorzeitig, meine persönliche Endstation heißt „Casteligno del Lago“. Und dort stehe ich nun, bepackt mit zwei großen Taschen, mitten im umbrischen Nirgendwo, auf einem Bahnhof mit genau zwei Gleisen. Meine Nase gen Sonne gerichtet, überschreite ich den schmalen Grad von Nostalgie zu Gegenwart.

Wir lassen uns auf die Stufen vor der Kirche fallen, der einzige freie Schattenplatz weit und breit. Perugia verzaubert mich jedes Mal mit seiner atemberaubend schönen Architektur und durch seine Gegensätze. Alt trifft auf neu, kommt man doch inzwischen mit der Minimetro in das Stadtzentrum, welche auch noch automatisch ohne menschliche Hilfe betrieben wird. Mir wird ein Stück Pizza gereicht und wir verfallen alle in ein zwangloses Schweigen. Diese Art von Schweigen, das nicht belastet, sondern ein Schweigen, das jeden einzelnen sanft auffängt und ihn/sie für einen kurzen Moment in seine eigene Welt abtauchen lässt. Jeder schaut durch seinen persönlichen Sucher, um letztendlich an irgendjemanden oder irgendwas kleben zu bleiben. Mein Blick sucht nicht lange und verfängt sich in der Ausstrahlung einer älteren Frau, welche, komplett in Schwarz gekleidet, durch die Einkaufsstraße auf uns zu läuft. Ein bisschen Diva, ein bisschen Charisma. Sie öffnet die Tür eines Geschäftes neben uns (die Siesta ist inzwischen vorbei), hievt einen kleinen Metalltisch aus dem Laden und platziert ihn direkt davor. Sekunden später tritt sie erneut heraus und drapiert die Gläser auf dem Tisch, lässt den Champagner in Kühler gleiten, zündet sich eine Zigarette an und wartet. Kurze Zeit später taucht eine weitere Frau auf und die beiden umarmen sich herzlich und lautstark. Mimik & Gestik lösen die Situation auf und so stoßen die beiden Frauen auf den Ehrentag der einen an, sitzen da mitten in der Einkaufsstraße Perugias, als wäre es das normalste auf dieser Welt, und blicken nach aufgeregten Gesprächen auch jede durch ihren eigenen Sucher während der Champagner vermutlich auf der Zunge prickelt.

Berg auf, Berg ab, folgen wir dem Straßenverlauf. Vorbei an Olivenbäumen, Akazien, begleitet von dem abendlichen Zirpen der Grillen, fahren wir etwa 30 Minuten, bevor wir in eine Einbahnstraße einbiegen und zum Stehen kommen. Vor uns liegt ein Sportplatz auf dem um die 40-50 Tische und Bänke stehen, unspektakulär und simpel. Wir befinden uns auf dem alljährlichen, traditionellen Fest eines der Dörfer aus der Umgebung. Im Grunde ist es ein Wanderfest, denn von Woche zu Woche zieht es durch die Dörfer, die alle jedes für sich eine Möglichkeit schaffen, um zusammen zu kommen, sich gegenüber zu sitzen, sich auszutauschen und das wichtigste: gemeinsam zu Essen. Dabei ist die Gemeinschaft die Grundlage für all diese Feste. Jeder innerhalb der Dorfcommunity übernimmt eine Aufgabe von klein bis groß, ob sechs oder 66, jede*r hilft ehrenamtlich mit und packt an. Eine Speisekarte mit insgesamt 10 Gerichten; von der Vorspeise, bis hin zur Pizza und dem darauffolgenden Pasta-Gang ist alles vorhanden. Ohne viel Schnickschnack, dafür mit jahrelanger Tradition, kochen die älteren Bewohner*innen des Dorfes ihre Pastasoßen und servieren Ragouts, die sie stundenlang vor sich hin köcheln lassen, damit sie ihren vollkommenen Geschmack entfalten können. Nach vollzogenem Essen stürmen die, die sich von der Pastaschlacht schnell erholt haben, auf die Tanzfläche, oder fliegen im Kettenkarussell durch die Nacht.

Ich wache in weißen Laken auf, die sich kühlend um mich geschlungen haben. Es ist 6.30 Uhr und während mein mentales Ich sich konsequent dagegen wehrt, sich aus dem Laken-Kokon zu befreien und Flügel wachsen zu lassen, entscheidet sich mein physisches Ich dazu, wie ferngesteuert Hose & Shirt überzustreifen und nach dem Rucksack neben der Tür zu greifen. Und dann laufe ich auf einmal den Schotterweg Richtung Einfahrt entlang, lasse unser verlassenes Ferienhaus hinter uns. Es dauert gut eine halbe Stunde, um zu Fuß an der Straße entlang das nächste Dorf zu erreichen. Von dort aus starte ich die zweite Etappe meines Morgenspazierganges, rauf auf den Monte Petravella. Knapp eine Stunde dauert der Aufstieg, bis zum Gipfel sind es 627 Meter, mal mehr, mal weniger steil. Niemand kommt mir entgegen. Ich laufe an Trockenmauern und Olivenbäumen vorbei, blicke runter auf das Dorf und den dazugehörigen Glockenturm, der noch friedlich alle schlafen lässt. Vor mir breiten sich auch unzählige Felder aus, die ein umfassendes Farbspektrum an Gelb- und Grüntönen abdecken. Und dann tauchen etwa auf der Hälfte des Weges zwei Häuser am Wegesrand auf, vor denen ein riesiges Lavendelbeet seinen Platz gefunden hat. Und so fliegen hunderte Schmetterlinge durch die Luft und das ganze Szenario könnte glatt einem Nicholas Sparks Film entsprungen sein. Der Schweiß perlt von meiner Stirn, als ich den Gipfel erreiche. Eine phänomenale Aussicht wird einem ganz oben verwehrt, die gibt es aber vorher schon. Dafür ist man umringt von hohen Bäumen und schaut den Baumkronen dabei zu, wie sie vom Wind zum langsamen Walzer aufgefordert werden. Wer Zeit hat, lässt sich einige Minuten auf einem Baumstamm nieder, neben dem eine bunte Box steht, in der sich mehrere Notizhefte befinden. (Hier habe ich mich schon als Zwölfjährige, dauer-wütende Teenagerin eingetragen, die eher mit Widerwillen die 627m bestritten hat.) Und während man dort oben sitzt, behütet und doch alleine, sind diese Notizhefte und die Botschaften der unterschiedlichsten Menschen der abstrakte Beweis dafür, dass ich nicht als erste hier oben sitze. Und in mir macht sich ein Gefühl der Zugehörigkeit breit, irgendwo in Umbrien, alleine auf diesem Berg um 8 Uhr morgens, während die Sonne erste Schatten auf mein Gesicht wirft.

Vor genau 20 Jahren war ich das erste Mal hier. Damals noch mit Windeln ausgestattet und kulinarisch beschränkt auf Babybrei und Muttermilch, konnte ich die umbrische Landschaft und deren Erträge noch nicht so wertschätzen, wie ich es heute tue. In Umbrien hat meine Familie und habe auch ich ein Stück Zuhause gefunden. Ein Ferienhaus, welches abgeschottet in einem Tal liegt, umringt von unendlich vielen Hektar Feld, die Besitzerin ist inzwischen enge Freundin unserer Familie.

Die meisten Tourist*innen lockt es in den Frühjahrs- und Sommermonate entweder in die Großstädte Italiens wie Rom, Florenz, Mailand, Verona oder sie verziehen sich an das Meer oder den Gardasee. Umbrien, das Herz Italiens und angrenzend an die Toskana, verliert sich jedoch allmählich aus dem Blick vieler. Und darunter leidet die Region. Nicht nur die Wasserknappheit und Waldbrände macht ihr in den Sommermonaten zu schaffen, sondern auch die einbrechende Wirtschaft und erst recht der Einbruch in der Tourismuswirtschaft. Das begegnet einem manchmal eher subtil, manchmal aber trifft es einen genau ins Herz. So verschwinden nach und nach die kleinen Einzelhandelsgeschäfte aus dem Stadtbild des Dorfes in Castiligno, meiner Lieblingsstadt, welche sich oberhalb des Lago Trasimeno befindet. Der traditionsreiche Pizzabäcker hat der Region schon den Rücken gekehrt und meine Kindheitserinnerung werden von Jahr zu Jahr schwächer, weil sie sich an nichts aus der Gegenwart mehr klammern können. Ja, die wirtschaftlichen und globalen Folgen sind auch hier zu spüren. Und dennoch ist Umbrien eine Reise wert. Denn wer will schon überfüllte Strände, wenn man einen Aussichtspunkt haben kann, an dem man sich statt eines Beweis-Selfies in ein Gipfelbuch eintragen kann? An dem man mit der Dorfgemeinschaft speisen kann, anstatt sich durch die Top 10 TripAdvisor-Empfehlungen der Stadt zu futtern.

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